26. April 2022 admin

Der Krieg in der Ukraine – bringt er eine Neuordnung Europas?

Von Prof. Dr. Claudia Wiesner, Hochschule Fulda

Der Krieg in der Ukraine hat nicht nur einige europäische Gewiss- und Gewohnheiten in Frage gestellt. Er wird auch eine Neuordnung Europas mit sich bringen, denn: Erstmals seit den Balkankriegen gibt es wieder Krieg in Europa. Das erschüttert europäische Sicherheiten – und zwar sowohl bei politisch Handelnden wie auch bei Bürgerinnen und Bürgern. Über 70 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkrieges gab es kein reales Bewusstsein mehr davon, dass es wirklich geopolitische Bedrohungen geben könnte. Und vor allem: Krieg war für viele, in der Politik, der Wirtschaft, der Zivilgesellschaft eine höchstens theoretische Option. Die Idee, Frieden zu schaffen ohne Waffen war common sense geworden. Dabei waren aber die meisten EU-Mitgliedstaaten und insbesondere auch Deutschland seit langem Teil der Nato, d.h., beide profitierten in den letzten Jahren faktisch vom nuklearen Schutzschirm der USA.

Was sich derzeit zeigt ist, dass diese Orientierung auf Frieden und Wirtschaftsbeziehungen in alle Welt nur dann funktioniert, wenn es keine Aggression gibt, die Völkerrecht oder europäische Sichtweisen und Rationalitäten ignoriert, so wie jetzt. Nun sind die EU und auch Deutschland damit konfrontiert, dass genau das geschieht. Im und mit dem Ukrainekrieg werden – und ganz offensichtlich primär aus geopolitischen und ideologischen Motiven, d.h. aus einem russischen Großmachtstreben heraus – grundlegende Werte der EU in Frage gestellt: Freiheit, Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, und das moderne Völkerrecht. Damit werden auch seit 30, wenn nicht sogar seit fast 70 Jahren, etablierte europäische Gewissheiten umgeworfen: Krieg war undenkbar. Das hat sich mir in vielen Gesprächen mit Studierenden gezeigt, die in Einführungsveranstaltungen in die europäische Integration ungläubig blicken, wenn die Option eines Krieges in Europa diskutiert wird. Es konnte sich kaum jemand vorstellen, dass Russland oder sonst irgendein autoritärer Staat auch nach außen wahrmacht, was er im Inneren praktiziert, nämlich die offene und aktive Verachtung der Prinzipien von Freiheit, Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Völkerrecht. Das ist aus einer europäischen Rationalität heraus auch kaum zu verstehen – aber sehr wohl aus einer russischen geopolitischen und ideologischen Perspektive heraus, einer Perspektive, in der diese Werte als dekadent betrachtet werden und ein großrussisches Reich angestrebt wird.

Diese Überlegungen unterstreichen, wie schwierig es aus Sicht der EU und ihrer Mitgliedstaaten ist, auf die neue Situation zu antworten. Insbesondere Deutschland stellt dies vor erhebliche Herausforderungen. Dennoch haben wir in Deutschland binnen 96 Stunden nach Kriegsbeginn einen Paradigmenwechsel gesehen: nach Jahrzehnten der Demilitarisierung wurde in kürzester Zeit ein enormes Budget für Rüstung beschlossen. Plötzlich betont die politische Führung, dass Deutschland verteidigungsfähig sein muss. Aber die Kritik an den 100 Millionen Euro Sondervermögen für die Verteidigung in Deutschland zeigen auch, wie schmerzhaft dieser Bruch mit der Tradition der letzten Jahrzehnte ist, für einige jedenfalls. Und dafür gibt es gute Gründe. Deutschland hat sich seit dem Zweiten Weltkrieg als Friedensmacht definiert und muss seine Rolle nun neu finden. Eine Friedensmacht zu sein ist dabei sicherlich normativ attraktiver, als sich als entscheidenden geopolitischen und militärischen Akteur in Europe zu verstehen.

Die innenpolitischen Folgen des Krieges in den EU-Staaten sind aktuell noch offen. Europas Populisten haben vor dem Krieg offen mit Putin sympathisiert. Es zeigt sich aber nun, dass diese Ausrichtung einerseits politisch nicht mehr opportun ist. Die deutsche AfD bekommt fast nur noch Hohn und Spott, wenn sie sich zu Putin äußert – entsprechend tut sie es kaum. In Frankreich haben Marine Le Pen, Eric Zemmour und auch Jean-Luc Melenchon sich von Putin ein Stück weit distanziert. Le Pen musste sogar eine Wahlkampfbroschüre einstampfen, weil sie dort zusammen mit Putin abgebildet war. In der Summe zeigt dieser Krieg, wozu Autokratien fähig sind. Eigentlich sollte all dies autokratische Tendenzen unattraktiver machen – aber der Ausgang der Wahlen in Ungarn und in Frankreich zeigen, dass das so nicht stimmt. Viktor Orban gewann die ungarische Parlamentswahl erneut mit Zweidrittelmehrheit. Auch Le Pens Umfragewerten hat ihre vormalige Nähe zu Putin nicht geschadet. Im April 2022 hatte sie so gute Aussichten, bei den Präsidentschaftswahlen erfolgreich zu sein, wie noch nie zuvor. Entsprechend erreichte sie dann den zweiten Wahlgang. Das Ergebnis der französischen Präsidentschaftswahlen fiel dann im zweiten Wahlgang zwar mit etwa 42% für Le Pen und etwa 58% für Macron relativ deutlich aus, aber auch dieses Resultat bedeutet, dass 42% der abgegebenen Stimmen, also mehr als zwei Fünftel, an eine rechtsextreme EU-Kritikerin gingen. Das verdeutlicht die Überzeugungskraft rechtsextremer, populistischer und demokratiefeindlicher Ideen sowohl in der EU als auch in Frankreich.

Möglicherweise wird der Krieg auch inner-europäische Machtverhältnisse verändern. Zum einen ist es wahrscheinlich, dass Frankreich und Deutschland ihre Führungsrolle stärken, wenn sie sie denn annehmen (und wenn Macron Präsident bleibt). Auch Kommission und Parlament können stärkere Gestaltungsmacht gewinnen, wenn sie ihre angekündigte Agenda umsetzen, d.h. die EU als geopolitische Akteurin gestalten. Mit Blick auf die östlichen Staaten zeigt sich ein widersprüchliches Bild. Einerseits sehen sie derzeit schmerzhaft, dass es nicht sehr attraktiv ist, sich an Russland anzubinden, und sie könnten zudem über den Krieg eine konstruktive Rolle gewinnen, wenn sich denn Initiativen wie die Bahnreise der polnischen, tschechischen und slowakischen Regierungsschefs nach Kiew fortsetzen. Polen spielte so plötzlich wieder konstruktiv mit in der EU. Diese Entwicklungen könnten die EU ausgewogener machen und stabilisieren, und zudem die gemeinsame Orientierung auf Demokratie stärken. Es gibt aber auch eine Gefahr, dass sich die inneren Konflikte wieder intensivieren. Denn Ungarn fällt aus dem osteuropäischen Zusammenhang heraus. Viktor Orban verbreitete vor der Wahl erfolgreich das Narrativ, dass alleine er und seine Fidesz Ungarn aus dem Krieg heraushalten könnten – und zwar durchaus aufgrund seiner relativen Nähe zu Putin. Nach dem Wahlsieg verdeutlichte Orban, dass er seinen politischen Kurs und seine EU-Kritik beibehalten werde, und die Kommission kündigte an, ein Rechtsstaatsverfahren gegen Ungarn zu beginnen. Für den Fall, dass Le Pen in Frankreich die Wahl gewinnen sollte, würde aus einer Kooperation Le Pen-Orban ein immenses Krisenpotenzial für die EU erwachsen.

Die EU hat sich zu all dem erneut in ihrer Erweiterungspolitik zu positionieren – und auch hier hat sie geopolitische und geostrategische Überlegungen einzubeziehen und abzuwägen gegen innere Anforderungen. Nach der Ukraine haben auch Georgien und Moldawien einen Antrag auf EU-Beitritt gestellt. Nord-Mazedonien, Montenegro, Albanien und Serbien verhandeln schon länger mit der EU über einen Beitritt. Und der Krieg wird sich sicherlich auf die Osterweiterung der EU auswirken. Er wird den Druck verstärken, schneller zu werden und Angebote zu machen – so schnell wird es aber nicht gehen (können). Denn die EU hat das Problem, bereits zu oft zu rechtsstaatlich schwache Staaten aufgenommen zu haben. Sie beginnt gerade ein Rechtsstaatsverfahren gegen Ungarn, gegen Polen laufen bereits Verfahren. Dies sollte der Tendenz zu übereilten Entscheidungen entgegenwirken. Und: Die EU wird sich realiter auch die Frage stellen, ob sie in Kriege verwickelt werden will. Dies mag zynisch klingen, aber: Da die EU auch eine Verteidigungsgemeinschaft ist, würden mehr östliche Mitglieder auch die Entscheidung zu deren notfalls kriegerischer Verteidigung bedeuten. Es ist aber offensichtlich, dass derzeit weder die EU noch die NATO in diesen Krieg hineingezogen werden möchten, und zwar mit guten Gründen. Das wird sich sicherlich auch in Zukunft nicht ändern. Insofern ist der Umgang der EU-Staaten und der NATO mit der Situation ambivalent: sie wollen den Krieg beenden, aber nicht eingreifen.

Die EU erlebt in Reaktion auf den Krieg aber bereits einen Paradigmenwechsel, der bisher kaum als solcher thematisiert wird. Die EU kaufte umgehend Waffen für die Ukraine im Wert von 500 Millionen Euro – diese EU, die zwar Klauseln zur gegenseitigen Verteidigung ihrer Mitgliedstaaten im Vertrag hat (Art 42 EUV), aber bislang kaum eine aktive militärische Rolle übernommen hat. Der EU-Außenbeauftragte Borell spricht von der „neuen Geopolitik der EU“, ebenso wie Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen. Auch hier erleben wir eine Zeitenwende: die EU ist auf dem Weg, ein ernsthafter geopolitischer Akteur zu werden. Und das muss sie auch – zumindest muss sie sich zur multipolaren Weltordnung und geopolitischen Entwicklungen positionieren. Das betrifft neben Russland vor allem China, dessen geopolitische und wirtschaftliche Aktivitäten in der EU erkennbar auch dem Ausbau (geo)politischer Einflusssphären dienen und die nicht unterschätzt werden sollten. China betreibt mit der „Belt and Road Initiative“, der so genannten neuen Seidenstraße, erkennbar Geopolitik. Chinesische Investoren konnten unter anderem im Zuge der Privatisierungen nach der Finanzkrise den Hafen von Piräus kaufen – einen seit Jahrtausenden strategisch zentralen Hafen im südlichen Europa. Hinzu kommt die Unsicherheit, wie sich die USA weiter weltpolitisch verhalten werden. Unter der Biden-Administration wird sicherlich eine atlantische Bündnispolitik fortgeführt werden – aber aus europäischer Sicht ist es ein glücklicher Umstand, dass gerade Biden und nicht mehr Donald Trump Präsident der USA ist. Die Gefahr aber, dass Trump noch einmal gewählt wird, ist real.

Welche Folgen könnte der Krieg in einer weltweiten Perspektive haben, insbesondere mit Blick auf die Bedeutung von Freiheit, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit und die Chancen neuer (Re-)Demokratisierungswellen? Diese Frage ist derzeit offen. Im „Westen“ und bei denen, die zum Westen gehören wollen, ist das sicherlich mehrheitlich so. Aber auch im Westen gibt es Kritik an dem, was manche als „Verteidigung westlicher Werte“ bezeichnen, es gibt sogar die offene Infragestellung dieser Werte – wenn sie etwa als per se kolonial oder rassistisch bezeichnet werden. Und im weltweiten Maßstab ist wichtig zu beachten, welche Staaten sich in der UN-Vollversammlung bei der Abstimmung über die Resolution, die den Krieg und Russland verurteilt, enthalten haben. Darunter sind vor allem zahlreiche große Schwellenländer. In dieser neuen weltpolitischen und geopolitischen Konstellation, in dem neuen Kaltheißen Krieg, wie er mitunter genannt wird, ist eine entscheidende Frage, wer sich wie geopolitisch ausrichten wird. Russland orientiert sich erkennbar nach Osten, aber China reagiert noch reserviert, gab Anzeichen, sich jedenfalls ein Stück weit von Russland zu distanzieren. Würde Russland so sukzessive isoliert, wäre das hilfreich für die westlichen Demokratien. Falls aber die Allianz Russland-China hält, und wenn sie z.B. von Indien oder Pakistan verstärkt würde, würde das den Westen unter starken Druck setzen. Wichtig ist hier, einzubeziehen, dass viele der Staaten, die sich enthalten oder mit Nein gestimmt haben bei der UN-Resolution, auch autokratisch verfasst sind. Es ist eine Lektion dieses Krieges, dass die möglichen Konsequenzen autoritärer Tendenzen und autokratischer Staatlichkeit nicht zu unterschätzen sind. Autoritäre Staaten haben ganz offensichtlich weniger Hemmungen, ihre Interessen gnadenlos und im Widerspruch zum Völkerrecht durchzusetzen. Es stellen sich also zahlreiche geopolitische Herausforderungen, zu denen sich die EU positionieren muss, ob sie will oder nicht.

Insgesamt wird der Krieg mit großer Sicherheit damit nicht nur eine Zeitenwende bringen, sondern auch tatsächlich eine Neuordnung Europas. Wie substanziell diese ausfallen wird, wird sich zeigen.

Die hier beschriebenen Fragen und Überlegungen sind leitend für die Arbeit im Schwerpunkt „Demokratie in der globalen Ordnung“ des neu gegründeten Forschungsinstituts „Point Alpha e.V.“ Nähere Informationen finden sich hier:

https://www.hs-fulda.de/sozial-kulturwissenschaften/forschung-und-projekte/forschungsinstitut-point-alpha-ev

Die ausgeführten Überlegungen werden zudem ausführlich in diesem Podcast thematisiert: “Welche geopolitischen Auswirkungen hat der Ukraine-Krieg auf Europa und die Welt?“

https://www.convoco.co.uk/podcast/c-spezial-claudia-wiesner/