31. Oktober 2019 admin

Der neue Brexit Deal: Eine Gefahr für die Integrität des europäischen Binnenmarkts?

von Prof. Dr. Friedemann Kainer, Universität Mannheim

Es war eine Grundforderung der EU, die der Europäische Rat in seinen Brexit-Verhandlungsleitlinien im April 2017 formulierte: Der Austrittsvertrag und der zukünftige Handelsvertrag zwischen der EU und dem Vereinigten Königreich dürfen die Integrität des Binnenmarkts nicht beeinträchtigen. Darunter versteht die EU zum einen die Einheit der vier Grundfreiheiten. Zugang zum Binnenmarkt kann das Vereinigte Königreich nach dem Austritt aus der EU nur im Paket (Warenverkehr, Dienstleistungen, Personen und Kapital) bekommen. Zum anderen dürfen die Funktionen des Binnenmarkts nicht beeinträchtigt werden, etwa durch Umgehung der Regeln der Zollunion oder der unionsrechtlichen Standards: Kein Rosinenpicken! Hierfür lassen sich verschiedene Gründe finden, teils politisch, teils wettbewerblich. Von Anfang an bestand die Befürchtung, dass ein (zu) vorteilhaftes Handelsabkommen austrittsaffine Kreise in unterschiedlichen Mitgliedsstaaten zur Nachahmung anregen könnten. Die Rede war schnell von Danexit (Dänemark), Czexit (Tschechien) oder Finexit (Finnland). Gewichtigere Bedenken begegnen aus der Sicht des binnenmarktrechtlichen Wettbewerbsprinzips niedrigere Zölle und arbeits-, sozial- und umweltrechtliche Standards im Vereinigten Königreich bei gleichzeitig freiem Marktzugang, weil sich hieraus resultierende niedrigere Kosten in (ungerechtfertigte) Wettbewerbsvorteile umsetzen würden. Es gibt also einen Konnex zwischen Marktöffnung und regulatorischer Konvergenz.

Die Kommission hat in ihren Verhandlungen über das Austrittsabkommen mit den Briten bislang sehr genau darauf geachtet, dass der Grad an Marktöffnung mit der Verpflichtung des Vereinigten Königreichs auf die Übernahme wettbewerbsrelevanter Regulierungen abgestimmt war. So sah das von der Regierung May verhandelte und am 25.11.2018 vom Europäischen Rat angenommene Backstop-Protokoll einen Verbleib Nordirlands im Warenbinnenmarkt vor mit der Folge, dass dort unionales Zoll- und Warenverkehrsrecht, aber auch bestimmte arbeits-, sozial- und umweltschutzrechtliche Standards anwendbar sein sollten. Großbritannien sollte im gemeinsamen Zollgebiet verbleiben, aber nur einen abgeschwächten Marktzugang erhalten. Hier wären die genannten Standards – abgeschwächt als Mindeststandards – einzuhalten gewesen. Für das ganze Vereinigte Königreich sollte im Übrigen das unionale Beihilfenrecht gelten.

Diese – recht weitgehende – Bindung an das Unionsrecht fand im Unterhaus keine Mehrheit, der Backstop wurde durch das am 17.10.2019 mit Premierminister Johnson vereinbarte neue Nordirland-Protokoll ersetzt. Es sieht nunmehr zwar noch einen Verbleib Nordirlands im Warenbinnenmarkt der EU, zugleich aber ein Ausscheiden des Vereinigten Königreichs (als Ganzes!) aus der EU-Zollunion vor. Regelungen für einen direkten (!) Marktzugang Großbritanniens in die EU gibt es nicht, so dass dort überhaupt keine gemeinsamen Standards gelten sollen; in Nordirland sollen zwar der warenverkehrsrechtliche Acquis, nicht aber sonstige Standards anwendbar sein. Hat hier die EU aus politischen Gründen in ihren zentralen Forderungen nachgegeben? Einiges spricht dafür: Das komplexe System einer Zollzusammenarbeit soll zwar verhindern, dass Güter aus Großbritannien über Nordirland zollfrei in die EU geliefert werden. Ob das Verfahren funktioniert, das im Übrigen protokollrechtlich nur teilweise ausgearbeitet ist und noch einer Konkretisierung durch das Joint Committee bedarf (mit Vetorecht des Vereinigten Königreichs!), ist keineswegs sicher. Waren, die in Großbritannien z.B. unter zukünftig möglicherweise niedrigeren Umweltschutzstandards kostengünstiger produziert werden, könnten über Nordirland in die EU exportiert werden. Wie Beihilfen kontrolliert werden sollen, wenn sie Zulieferfirmen in Großbritannien zugutekommen, deren Produkte in Nordirland weiterverarbeitet werden und dann mit Kostenvorteilen in die EU gelangen, ist ganz unklar.

In diesem Sinne ist das neue Nordirland-Protokoll ein Rückschritt für die Integrität des Binnenmarkts und ein bemerkenswerter Erfolg von Boris Johnson. Selbst wenn es gelänge, die Lücken im unionalen Außenzoll zu füllen, könnte Nordirland ein beachtlicher Wirtschaftsaufschwung im Bereich des Handels von britischen Waren über Irland in die EU bevorstehen – zulasten der europäischen Wettbewerber. Offenbar war der zeitliche und politische Druck zu groß, um auf Seiten der EU diesen Bedenken wirksam zu begegnen. Um so mehr sollte die EU bei den Verhandlungen zu einem Freihandelsvertrag auf Wettbewerbsgleichheit Wert legen. Ein Interview von Chefunterhändler Michel Barnier mit dem Guardian (29.10.2019: „Ignore EU regulatory standards at your peril“) lässt insoweit hoffen.