25. November 2019 admin

Wahlen im Vereinigten Königreich: Ein Brexit unter einer Labour Regierung

von Prof. Dr. Friedemann Kainer, Universität Mannheim

Am 21.11.2019 hat Labour sein Wahlprogramm (Manifesto) vorgestellt. Es enthält auch die Prioritäten für die zukünftige Europapolitik des Vereinigten Königreichs unter der politischen Führung von Jeremy Corbyn.

  1. Im Zentrum steht das Versprechen, dass das britische Volk auf der Grundlage eines neu verhandelten Austrittsvertrages neu abstimmen darf. In einem nunmehr rechtlich bindenden Referendum werden zwei Alternativen zur Wahl gestellt: Der Verbleib in der EU gegenüber einem Austritt, Modell „soft Brexit“.
  2. Hierfür möchte Labour innerhalb von 6 Monaten nach Regierungsantritt das Austrittsabkommen neu verhandeln. Die Eckpunkte sind:
  • Verbleib des (ganzen) Vereinigten Königreichs in der europäischen Zollunion;
  • eine enge Anbindung an den europäischen Binnenmarkt unter weitgehender Fortsetzung der Personenverkehrsfreiheit
  • eine „dynamischen Angleichung“ arbeits-, verbraucher- und umweltrechtlicher Standards mit dem Anspruch einer britischen Führung;
  • Fortsetzung der Beteiligung an unionalen Agenturen und Fonds (z.B. Horizon 2020 – Forschungsförderung)
  • Fortsetzung der Sicherheitszusammenarbeit (z.B. Zugang zu unionalen Datenbanken, Fortsetzung des Europäischen Haftbefehls);
  • Gewährleistung der Rechte der Unionsbürger im Vereinigten Königreich und die Einführung eines Systems deklaratorischer Anmeldung (anstelle der gegenwärtig vorgesehenen Pflicht, ein Aufenthaltsrecht zu beantragen);
  • Sicherung des Karfreitagsabkommens
  1. In der Bewertung fällt zunächst auf, dass das Labour Manifesto nicht zwischen Austrittsvertrag und künftigen Beziehungen differenziert. Stattdessen soll der „zutiefst fehlerbehaftete“ Johnson-Deal neu verhandelt werden. Das ist im Wesentlichen Wahlkampfgetöse. Das vorliegende Austrittsabkommen sieht eine Gewährleistung der Rechte der EU-Bürger und umgekehrt der in der EU lebenden Briten vor, darüber hinaus Übergangsvorschriften, finanzielle und institutionelle Regelungen und die Übergangszeit. Hieran ist wenig, was dringend verbesserungswürdig ist. Richtig ist, dass die zukünftigen Beziehungen skizzenhaft in der allerdings rechtlich nicht bindenden politischen Erklärung festgelegt sind. Diese können zweifelsohne ohne größeren Aufwand geändert werden und wären aus Labour-Sicht auch änderungsbedürftig, weil sie lediglich einen einfachen Freihandelsvertrag ohne große Ambitionen vorsieht.
  2. Dies gilt auch für das Nordirlandprotokoll, das – abgesehen von den Bürgerrechten – im Austrittsvertrag alleine längerfristig Beziehungen zwischen der EU und dem Vereinigten Königreich regelt. Nach der Änderung des Protokolls in den Verhandlungen mit Premierminister Boris Johnson sind jedoch ausschließlich die Wirtschaftsbeziehungen zwischen Nordirland und der EU geregelt. Eine erneute Neufassung des Protokolls wäre zwar möglich; auf der Grundlage des Art. 50 EUV kann es allerdings nicht an die Stelle eines dauerhaften Handelsvertrages treten. Grund hierfür ist, dass der Austrittsvertrag und die ihm beigegebenen Protokolle lediglich Übergangsregelungen enthalten bzw. unmittelbar mit dem Austritt zusammenhängende Fragen regeln dürfen. Alles andere bleibt für die Verhandlungen nach dem Austritt.
  3. Inhaltlich entsprechen die Brexit-Ziele das Labour Manifesto dem Modell eines Norwegen plus Brexit: dem (weitgehenden) Verbleib im EU-Binnenmarkt sowie der unionalen Zollunion und Beibehaltung der Rechtsangleichung. Das Manifesto spricht allerdings nur von arbeits-, verbraucher- und umweltrechtlichen Standards. Das greift deutlich zu kurz. Das Vereinigte Königreich müsste dafür im Grundsatz alle wesentlichen binnenmarktrechtlichen Regelungen akzeptieren und als „rule-taker“ entsprechend umsetzen (immerhin ausdrücklich: „dynamic alignment“). Insbesondere bedeutet dies auch, auch in Zukunft die Rechtsprechung des EuGH sowie die wettbewerbsrechtlichen Regeln zu akzeptieren, allen voran die Beihilfenaufsicht der Europäischen Kommission. Hierzu findet sich im Manifesto indes keine Aussage, aber von Seiten der EU wird es hier keine Zugeständnisse geben, schon zur Sicherung der Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen in der EU. Technisch bleiben viele Fragen: Welche Rechtsqualität würde das Recht eines Handelsvertrages haben? Wie würde die Beteiligung an europäischen Agenturen und Fonds organisiert werden? Wie soll die weitere Teilnahme am Europäischen Haftbefehl rechtlich vollzogen werden? Und: will ein großes Land wie das Vereinigte Königreich mit seiner glorreichen Geschichte wirklich „rule-taker“ werden? Ich halte das für ausgeschlossen.
  4. Nimmt man den Plan des Labour Manifestos beim Wort, so hätten die Briten die Wahl: zwischen Verbleib in der EU und einem „BRINO“ (Brexit in name only). Ein solcher Brexit wäre indes in der Tat vollständig sinnlos, als weitgehende Mitgliedschaft und Pflicht zur Zahlung in das EU Budget ohne Mitwirkungsrechte; es braucht wenig Phantasie, dass ein solcher Plan als Alternative zu „remain“ ausscheidet – zumindest bei rationaler Betrachtung.
  5. Für den Fall eines „remain“ sieht Labour eine „radikale Reform“ der EU vor, die sich zukünftig auf Klimapolitik, Vermeidung von Steuerflucht und das Ende von Austerität und sozialen Ungleichheiten fokussieren soll. Ob es Labour gelingt, der EU einen sozialistischen Stempel aufzudrücken, darf getrost bezweifelt werden. Regelungen zur Einschränkung von Steuerflucht werden seit Jahren ohne durchschlagenden Erfolg diskutiert, ausgerechnet die von Labour eher ungeliebte Beihilfenaufsicht erzielt hier die größten Erfolge. Letztere kann aber Nationalisierungsprojekten im Wege stehen, vor allem, wenn staatliche Unternehmen wettbewerbsverzerrende Steuergelder erhalten sollen. Und die Instrumentalisierung der EU zum Ausgleich von sozialer Ungleichheit im Vereinigten Königreich dürfte mangels Kompetenzen von vornherein zum Scheitern verurteilt sein.
  6. Es bleibt der Eindruck, dass das Labour Manifesto nicht weniger große Versprechen macht als Boris Johnson in seinem Wahlkampf für die Parteiführung im Juni-Juli 2019. Was einfach klingt („dynamic alignment“), wird den Praxistest harter Verhandlungen nicht überstehen. Dies gilt schon deswegen, weil das Versprechen einer Neuverhandlung in den ersten sechs Monaten schon technisch nicht einlösbar ist: die Verhandlungen über die zukünftigen Beziehungen können erst nach dem Austritt beginnen. Zur Wahl steht damit (neben dem Verbleib) nicht ein ausverhandeltes Abkommen, sondern lediglich das blumige Versprechen eines Norwegen plus-Modells in der Zukunft, das langjährige Verhandlungen erfordern dürfte, innenpolitisch als BRINO zu Verwerfungen (milde ausgedrückt) führt und die nächsten Neuwahlen möglicherweise nicht überlebt.

Von diesen Fragen abgesehen, immerhin: Labour hat sich klar für eine enge Bindung an die EU positioniert.